- Joseph Beuys
Glas und Beton sind nicht nur die tragenden Materialien in der Architektur der Moderne – sie gehören zu den ältesten Werkstoffen der Menschheit. Glasverarbeitung ist in Ägypten seit 1400 v. Chr. verzeichnet. Bereits beim Pyramidenbau wurde gebrannter Kalk benutzt, eine Vorstufe des Betons.
Mit beiden Werkstoffen ist Clara Simona Pries als gelernte Architektin seit ihrem Studium vertraut. Als sie der Architektur den Rücken kehrte, um sich in den freien Raum der bildenden Kunst zu begeben, konzentrierte sie sich zunächst ausschließlich auf Glas. Sie erkundete das Material, lernte, es auf verschiedene Weisen zu brechen und zu bemalen, und eignete sich den Umgang mit dem Sandstrahlgerät an. Die ersten Arbeiten, in denen sich diese Auseinandersetzung niederschlug, waren die "Lichtkörper" (2001): Eine siebenteilige Serie von zwischen weiß lackierten Holzkuben platzierten Glaskörpern – Stelen, die wie minimalistische Flakons wirken – die die atmosphärische Essenz eines bestimmten Tages enthalten und als Landschaftsmalerei mit anderen Mitteln verstanden werden können. Ihre Titel weisen darauf hin, dass sie jeweils eine spezifische Lichtsituation thematisieren (u.a. "Maitag", "Regentag", "Sommertag").
Diesen Arbeiten folgte eine 33-teilige Serie: Die "Schienenbilder" (2002/2003), die sich wiederum auf natürliche Erscheinungen beziehen in der Hauptsache auf bestimmte Blumen. Diese Erscheinungen werden jedoch soweit abstrahiert, dass nur noch ein dreidimensionales "Linienbild" übrigbleibt. Natur wird hier gleichsam "runtergerechnet", die Querformate aus in Schienen gehaltenen Glasscheiben lassen an Gencodes und andere Ver- und Entschlüsselungen unserer Gegenwart denken.
Filmisch beschäftigte sich die Künstlerin seit 1999 mit Beton. Während eines Stipendiums am Bauhaus Dessau realisierte sie die Videoarbeit "Bodenbilder": Ein Porträt der Stadt Leipzig, das aus 128 siebenminütigen Einstellungen besteht, die sich auf einen Quadratkilometer Bodenoberfläche der Innenstadt konzentriert. Historisches Kopfsteinpflaster, neben Gehwegplatten und Asphaltflächen, die normalerweise nicht im aktiven Sichtfeld liegen, sondern buchstäblich "mit Füßen getreten werden", rücken hier ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Bis zu den ersten Skulpturen, die mit Beton-, genauer gesagt, Kalksandsteinen arbeiten ("Hochhaus" und "Belle Etage", 2003/2004), sollten noch einige Jahre vergehen.
Die beiden Werkstoffe Glas und Beton markieren gleichsam zwei Pole: Das Glas mit seinen Konnotationen von licht und zerbrechlich steht in größtmöglichem Kontrast zu Beton, der gemeinhin als dunkel, stabil und schwer wahrgenommen wird. Ähnlich wie in der modernen Architektur gelingt es Clara Simona Pries in ihren Objekten, Skulpturen und Installationen, diese beiden Pole zu "versöhnen", sie kommt dabei jedoch zu anderen Ergebnissen als die Baumeister. Der moderne Bruch mit der Geschichte interessiert sie nicht, im Gegenteil: Sie wirft "die Angel weit aus" und schafft eine erzählerische Ordnung in ihrer Kunst, die sich aus antiken Mythen ebenso speist wie aus Märchen und Sagen. Vielleicht trifft sie auf diese Weise das "Wesen" ihrer traditionsreichen Materialien viel genauer als manch einer, der Glas und Beton nur als Zeichen einer modernen Urbanität zu deuten weiß.
2007 wandte sich die Künstlerin kurzfristig von ihrem ersten Material Glas, ab und bemalte für die "Disco-Steine" die Innenseite von Betonwinkelsteinen in Pastellfarben. Die Farbflächen überzog sie mit Perlmutt-Fluid, das nun gleichsam an die Stelle des Glases trat. Perlmutt diente in einigen Regionen der Welt lange als Zahlungsmittel und wurde später für alles benutzt, was schimmern und glänzen sollte, zum Beispiel für Intarsien, Schmuck oder Knöpfe. Als pragmatischer Werkstoff undenkbar führt Perlmutt die Phantasie des Betrachters unmittelbar in jene Regionen, die von Nixen und Nymphen ebenso bevölkert werden wie von Damen im Schnürkorsett, an deren Hals ein Perlmutt-Medaillon ihres Liebsten hängt.
2008 bezog Simona Pries das Glas wieder als Material in ihre Arbeiten ein und konfrontiert es u.a. in "Unten wohnt keiner" und "Eisberge" nun mit Beton-Modulen, die an Innen- oder Außenseiten "perlmuttiert" sind.
Turm
Ein Buch über alle Wahrnehmungen, die ich im Turm gemacht habe, müsste natürlich ein Buch über ALLES sein, über das GANZE MÖGLICHE. Auf diesem Grunde ist es unmöglich, ein Buch über alle Wahrnehmungen, die ich im Turm gemacht habe, zu verfassen.
- Thomas Bernhard
Seit jeher ist der Turm ein zentrales Thema der Architektur. Die konkreten Anforderungen eines Bergfrieds, eines Campaniles oder eines Wolkenkratzers mögen unterschiedlich sein – die Figur des Turms bleibt in ihnen erhalten.
2001 begann Simona Pries, sich mit dem Thema "Turm" zu beschäftigen. Ihre "Hommage an le Corbusier" von 2003 (eine Konstruktion aus Betonwinkeln und Glasscheiben, die verblüffend schwebend daherkommt) macht schon im Titel keinen Hehl aus dem Bezug zur Architektur. Für die Installation "Manhattan" von 2005 hat Clara Simona Pries gesandstrahlte und teilweise bemalte, unterschiedlich hohe Glaskörper dicht nebeneinander gedrängt, zwei stehen auf massiven Betonsockeln. Die Skyline-Assoziation liegt auf der Hand, nur dass Manhattan jetzt zu einem zarten Traumgespinst wird, das jeder Funktionalität trotzt und ausschließlich auf der Symbolebene zu lesen ist.
Von einem Turm aus hat man Übersicht, kann die Weite erkennen und sich zu ihr ins Verhältnis setzen. Der Turm ist gleichzeitig ein einsamer, abgeschlossener Ort, an dem sich Phantasien und fixe Ideen im erlebenden Subjekt verselbständigen können – die Installation "Luftschlösser" von 2007 gibt Zeugnis davon. Auf bis zu
210 cm hohen, gesandstrahlten und teilweise bemalten Glaskörpern liegt jeweils eine Glasplatte, auf der wiederum Palisadensteine stehen, den oberen Abschluss bildet eine weitere Glasplatte. Das Verhältnis von oben und unten ist auf den Kopf gestellt, die stabilen Betonsteine, die eigentlich dazu da sind, Belastungen auszuhalten, werden vom zarten, zerbrechlichen Glas getragen.
Eine weitere Turmserie hat Clara Simona Pries für drei verschiedene Frauenfiguren entwickelt, die für jeweils unterschiedliche Frauenbilder stehen: Persephone (2007), Rapunzel (2007) und das Milchmädchen aus der allseits bekannten "Milchmädchenrechnung" (2007). Antiker Mythos, Märchen und Sprichwort stehen gleichberechtigt nebeneinander, man gerät in den Einzugsbereich der Psychoanalyse, die die Symbolik des Unbewussten nicht nur in individuellen Träumen entdeckte, sondern ebenso in Mythen und Märchen, in der Literatur und im alltäglichen Sprachgebrauch.
Persephone und Rapunzel verbindet vor allem der Aspekt der Fremdbestimmtheit. Persephone wird von ihrem Vater Zeus dazu verurteilt, vier Monate im Jahr mit Hades in der Unterwelt zu leben (dann herrscht auf der Erde Winter), die restlichen acht Monate darf sie bei ihrer Mutter Demeter auf der Erde verbringen. Rapunzel wird von einer Zauberin (ihrer Mutter) in einem Turm gefangen gehalten, das Haar, das sie auf Zuruf herunterlässt, ist der einzige Zugang zu ihrem Gefängnis. Und so findet sich auch in Clara Simona Pries' "Rapunzel"-Skulptur eine Öffnung: Von den drei Meter hoch geschichteten Kalksandsteinen (bemalt und perlmuttiert) ist oben einer leicht nach außen gedreht und bildet dadurch eine Öffnung – Kommunikation existiert hier zumindest als Möglichkeit. Deshalb wird es Rapunzel nach vielen Mühen gelingen, den Turm zu verlassen und den Königssohn zu bekommen, während Persephone nur die zugeteilte Freiheit ihres achtmonatigen Erdenaufenthalts bleibt.
Die Redewendung von der "Milchmädchenrechnung" geht auf eine Fabel zurück: Eine Bauersfrau trägt Milch zum Markt und stellt sich auf dem Weg vor, was sie mit dem Erlös alles wird anfangen können. Doch einTeil der Milch ist verschüttet, bevor sie den Markt erreicht hat. Es geht hier also um Selbstbetrug, um Phantasien, die sich so verselbständigen, dass man in der Realität Schaden nimmt – die im Kopf bereits gemachte Rechnung geht nicht auf. Für die "Milchmädchenrechnung" hat Clara Simona Pries Betonsteine aufeinandergeschichtet, den Turm von oben mit weißer Farbe übergossen und die Säule umgedreht, so dass es scheint, als würde die weiße Farbe von unten den Beton "hinauflaufen".
Palisaden und Winkel
So lieb ist der liebe Gott auch wieder nicht, dass er dem, der keinen Inhalt hat, die Form schenkt.
- Alfred Hrdlicka
Der industriell gefertigte Palisadenstein, der in jedem Baumarkt zu haben ist, wird hauptsächlich für die Einfassung von Gartenbeeten benutzt – wenn man so will, für die Befestigung und Eingrenzung der kultivierten Natur. Clara Simona Pries weist diesem profanen Material eine neue Bedeutung zu, indem sie die Betonmodule zu großen Wandarbeiten inszeniert. Losgelöst aus dem Kontext des Reihenhausgartens entfaltet bereits der einzelne Palisadenstein eine verblüffende Wirkung: Seine eigentümliche Form und raue Oberfläche lässt Assoziationen zu, die von antiken Tempeln bis hin zu gotischen Kathedralen reichen.
Für die Installation "Galaxie" hat Pries 81 Palisadensteine an ihrer konkaven Aushöhlung verschiedenfarbig bemalt und an die Wand gebracht. Die strahlenförmige Struktur, die sich von einem kreisförmigen Zentrum aus sieben Meter in die Breite und gut drei Meter in die Höhe erstreckt, lässt an kosmische Ereignisse denken, wobei die Frage, ob es sich hier eigentlich um eine Implosion oder um eine Explosion handelt, nicht endgültig zu klären ist.
Für die Arbeit "ohne Titel" aus 2007 benutzt die Künstlerin neben den Palisadensteinen Betonwinkelsteine und arrangiert sie zu einer intuitiven Ordnung, die dem Grundriss eines geheimnisvollen Labyrinthes ähnelt. Bei "Ein Tag wie jeder andere…" (2007) und "ohne Titel" (2008) greift Pries ausschließlich auf die Winkelsteine zurück. Der Schwerkraft trotzend finden sich die Steine in der ersten Installation zu einem losen, spielerischen Zusammenhang, während in der zweiten Arbeit eine strenge, beinahe graphische Ordnung herrscht.
Licht
Ich sage: Eine Blume! Und aus dem Vergessen, wohin meine Stimme jeden Umriss verbannt, erhebt sich als etwas Anderes als die gewussten Kelche, musikalisch, Idee gleichsam und zart, die in allen Sträußen Abwesende.
- Stéphane Mallarmé
Licht ist für Clara Simona Pries in zweierlei Hinsicht entscheidend: Zum einen als "Einheit, in der alle Dinge im Raum erscheinen", zum anderen als Gegenstand ihrer Arbeit selbst.
Eine ganze Serie nennt die Künstlerin "schichtengeteiltes licht" (seit 2006). Auf einem Stück Betonplatte mit grober Bruchkante installiert sie hintereinander gestaffelte Glasscheiben, unterschiedlich hoch und teilweise bemalt. Jedes einzelne Wandobjekt transportiert eine spezifische Stimmung, die sich auf eine "Vorlage" in der Wirklichkeit bezieht. Pries "sammelt" Lichtstimmungen verschiedener Tages- und Jahreszeiten sowie atmosphärische Eindrücke von Landschaften und versucht, diese in ihren Arbeiten zu fixieren. Damit sie nicht verloren gehen. Und damit das, was in der Wirklichkeit oft nur beiläufig registriert wird, die volle Aufmerksamkeit des Betrachters erhält. Das gelingt über den Vorgang der Abstraktion, die wiederum das Kondensat eines Augenblicks gewinnen will. Und es gelingt durch ein Bekenntnis zur "Künstlichkeit", denn in Pries' Arbeiten wird nichts nachgebildet, sondern stattdessen etwas Neues konstruiert. Die Natur selbst ist nur noch als Zitat vorhanden, aus dem die Kunst entstehen kann – eine Strategie, die an die Lyriker des Symbolismus denken lässt.
"Schönheit" scheut Pries weder als Begriff noch als Wirkung, auch da ist sie den Symbolisten nahe. Und die Schönheit ihrer Arbeiten ist dicht an der Zerstörung gebaut: In der Serie "schichtengeteiltes licht" sind die zerbrechlichen Glasscheiben mit einem Hauch Silikon fixiert, bei den "paradiesfragmenten" (2006) und allen anderen Einzelarbeiten stehen sie nur lose auf dem Betonsockel – eine falsche Bewegung, und es wäre nicht nur ein Kunstwerk zerstört, sondern auch eine Erinnerung.
Wünsche
Mit Bildern ist es wie mit Wünschen: Die unerfüllten bleiben intakt, die erfüllten werden flach.
- Anselm Kiefer
In ihrer Ausstellung im Essener Kunstverein kunstwerden (2008) realisierte Simona Pries die Installation und Aktion "1000 Wünsche". An der Wand des Ausstellungsraums errichtete sie fünf Stapel aus insgesamt tausend Floatglasscheiben. Die Besucher wurden dazu aufgefordert, Schutzhandschuhe und –brille anzuziehen, sich eine der Glasscheiben zu nehmen und ein im Raum installiertes Podest zu betreten, von dem aus sie die Scheibe auf den Betonfußboden werfen konnten. Innerhalb kurzer Zeit entstand am Boden ein Scherbenmeer, das in Sachen Melancholie durchaus mit dem Casper David Friedrich'schen "Eismeer" mithalten kann. Vergänglichkeit, Vergeblichkeit – der Titel "1000 Wünsche" ist Programm: Mit ihrer Aktion ermöglichte die Künstlerin jedem Ausstellungsbesucher einen Moment des Innehaltens und warf ihn auf sich selbst, auf seine individuellen Fragen und Wünsche, zurück. Und auf die Notwendigkeit, manchmal etwas Kostbares zerstören zu müssen, um zu einer neuen Einsicht zu gelangen.
Blumen, Schmetterlinge
Es ist Zerstörung im Gang.
- Ingeborg Bachmann
2001 entwickelte Simona Pries das Konzept "Ein Haus für eine Blume" für den Ruinenbergpark von Schloss Sanssouci. Ein architektonischer Entwurf, der eine Halbkugel-Kuppel ins Zentrum eines aus gebogenen Wänden bestehenden, kreisförmigen Labyrinths platziert. Ein zeitgenössisches Heiligtum, ohne Zweifel, das etwas so Alltäglichem wie einer Blume – sei es ein Gänseblümchen, sei es eine Orchidee – ein Zuhause geben und gleichzeitig ein Denkmal setzen will.
2008 berichteten die Medien einmal mehr über das Artensterben. Pries reagierte darauf mit der Arbeit "Schmetterlinge": Ein Wandobjekt aus Betonplattensockel mit Bruchkante und drei lose darauf stehenden gesandstrahlten Glasplatten. Auf der Wand hinter dem Glas befinden sich jeweils zwei Farbstreifen, die man als graphische Abstraktion einer Grabsteininschrift deuten kann.
Ein Haus für eine Blume, ein Grabstein für ausgestorbene Schmetterlingsarten – es mutet heutzutage fast seltsam an, wenn eine Künstlerin sich so explizit und emotional auf den menschlichen Umgang mit der Natur (oder nennen wir es ruhig "Schöpfung") bezieht. So wundert es nicht, dass Simona Pries sich in heutigen Künstlerbildern nicht unbedingt wieder findet, sondern sich eher auf Vorbilder wie z.B. Joseph Beuys bezieht, in deren künstlerischem Selbstverständnis Spiritualität, Achtsamkeit vor der Natur, Respekt vor dem Anderen und Verantwortung für das große Ganze zentrale Rollen spielen. "Cool" ist das wahrscheinlich nicht. Aber wer hat eigentlich behauptet, dass zeitgenössische Kunst immer so daherkommen müsse, als trüge sie Tag und Nacht eine Ray Ban?
Dagrun Hintze, Schriftstellerin
Als die Pariser Kommunarden 1871 revoltierten, da zerschossen sie als erstes die großen öffentlichen Uhren. Denn Zeitmessung und Taktung sind Mittel der Disziplinierung.
Zeit wird so zu einer rein mathematischen Größe, zu einem Zahlenspiel mit klar definierten
Einheiten, die unterschiedliche Bedeutungen haben: Arbeitszeit, Freizeit, Ruhezeit, Lebenszeit. Der lineare Zeitlauf ist zugleich Illusion und Anmaßung, denn Zeit ist immer subjektiv, immateriell und frei verfügbar. Wie können wir die Zeit aufheben?
Lediglich in der Unendlichkeit löst sich der feste Klemmergriff des funktionalisierten Zeitverlaufes. Denn Unendlichkeit ist nichts anderes als ein verschwenderisches Übermaß an Zeit und Raum.
Raum ist die Schwester der Zeit. Wenn ein einziges Ding im selben Raum zweimal existiert, dann gibt es keine Zeit mehr. Raumgrenzen sind Zeitgrenzen. Die Science Fiction hat aus diesen komplexen Phänomenen eine große Erzählung gemacht. Hier werden Fakten fiktionalisiert und Naturgesetze phantasiert. In der Kunst werden Zeit und Raum interpretiert, gedehnt und in die Unendlichkeit verlängert. Was im wissenschaftlichen Experiment als Teilchenbeschleuniger und Urknalltheorie, gekrümmter Raum und Quantenphysik in der Abstraktion der Zahlen unvorstellbar bleiben muss, wird im Experiment der Kunst und ihrer Objekte erfahrbar. Die Erkenntnis bleibt ein Geheimnis. Der Fluchtpunkt ist die Phantasie.
Maik Schlüter
Braunschweig, Juni 2013
Was unterscheidet Künstler von anderen Menschen? Vielleicht ist es vor allem ihr anderer Blick auf die Welt, etwas, das auch Kinder anfangs noch haben – dieses unverbrauchte, noch nicht abgeklärte Sehen des scheinbar Selbstverständlichen und ihr ständiges und beharrliches Fragen nach dem Wie und Warum. Simona Pries ist solch eine seltene Künstlerpersönlichkeit. Ihren Arbeiten fehlt der Zynismus, der den Blick verstellt auf das Ungesehene, das Poetische und das Ursprüngliche. Ihre Haltung ist eine staunende geblieben, und das macht ihre Arbeiten zu etwas ganz Besonderem.
Simona Pries verwendet Beton, Glas und Spiegel, Farbe und auf der Straße Gefundenes sowie verschiedenste Naturmaterialien – bei dieser Beschreibung würde man eine Welt des Durcheinanders oder etwas Chaotisches und zumindest Ungeordnetes erwarten. Viele Künstler heute spiegeln in ihren Arbeiten unsere immer unübersichtlichere und kompliziertere Welt und überlassen uns dann diesem Chaos.
Bei Simona Pries ist das Gegenteil der Fall. In ihrer Welt gibt es nichts Grobes. Rauher Beton wird erstaunlicherweise zu etwas Zartem, Sinnlichen und Subtilen. Gesplittertes Glas wird zur Landschaft, zum Schriftzug, zur Silhouette. Die Künstlerin transformiert die Materialien wie eine Alchimistin, die aus Blei am Ende doch Gold machen kann. Das eigentlich hässlich-funktionale Untergestell eines alten Schreibtischstuhls wird mit Glas kombiniert zu einer klaren, raumhaltigen und unglaublich einleuchtenden Skulptur, so, als hätte dieses Untergestell immer nur darauf gewartet, aus seiner profanen Rolle befreit zu werden.
Wichtig für das Verständnis solcher Arbeiten bleibt die Beobachtung, dass immer die Gegensätze erhalten bleiben: Die Objekte und Installationen halten die Waage zwischen dem Rauhen und dem Glatten, dem Harten und dem Weichen, dem Offenen und der Kontrolle. Es sind Versuche über Balance, und als Betrachter spürt man intuitiv, dass damit mehr ausgesagt ist als nur ein Form-Experiment. Die Arbeiten können uns die Fragilität der Dinge und die allgegenwärtige Gefahr der Zerstörung spürbar werden lassen.
Simona Pries sagt selbst, dass bestimmte Grundlagen der Minimal Art, aber auch der Arte Povera in ihr Konzept eingeflossen sind. Auch wenn das kunsthistorisch ihre korrekten Quellen beschreibt, so beschreibt es nicht, worum es in ihren Arbeiten wirklich geht: Wichtiger als die historischen Bezüge erscheint es mir, welche philosophische Haltung ein Künstler mit seiner Arbeit heute vertritt. „Zum Werksein gehört die Aufstellung einer Welt“ sagt Martin Heidegger in seiner bekannten Schrift „Der Ursprung des Kunstwerks“. Das Werk, um das es Simona Pries geht, beginnt ebenfalls in einem Akt des Aufstellens, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Sie stellt uns Dinge entgegen, Dinge, die sie verwandelt hat, deren Bedeutung transformiert wurde in etwas Neues, etwas Unerwartetes und auch etwas Psychologisches.
Nur wenigen Künstlern gelingt es, uns als Betrachter in eine andere Welt eintreten zu lassen, eine Welt, in der wir uns selber fragen müssen, wie wir mit den Dingen und auch mit uns selbst umgehen wollen. Ob wir das Grelle, das Laute und das Offensichtliche suchen oder ob wir uns einlassen wollen auf eine Subtilität und Sensibilität, die auf anderem Wege in die Veränderung führt. Je lauter heute eine "politische" Kunst verlangt wird, desto mehr fehlt ein breiterer Begriff von Politik. Denn die wichtigste Welt entsteht im Kopf, und die Künstler sind die Vordenker solcher Welten.
Dr. Ingrid Pfeiffer
Schirn Kunsthalle Frankfurt
4. Juni 2012
Man könnte die Objekte von Simona Pries Monumente nennen, wäre nicht auch etwas Bildhaftes in ihnen, das sie in einen narrativen hermetischen Zusammenhang zu stellen scheint. Glas, sagt sie, sei ihr liebster Werkstoff, ein reversibles Material, das, im Schwebezustand befindlich, erstaunlich stabil und gleichzeitig fragil ist. Da es weder um Materialgerechtigkeit noch um Figuration geht, sind die gebrauchten und neuen Materialien Bedeutungsträger in einem sehr weiten Sinne. Sie erfüllen ihre bildhauerische Objektfunktion in klassischer Weise ohne dass die Skulpturen selbst in einer klassischen Ästhetik aufgehen würden. Ihr enigmatischer Charakter löst sie aus der Anschaulichkeit ebenso wie aus der Abstraktion. Pries bildet vielmehr Stellen im Raum, an denen ein verdichtetes – zuweilen animistisches zuweilen spirituelles – Raumklima herrscht. Architektonische Allusion ist ein Grundzug ihrer Gestaltung, die durch allegorische ephemere Momente wie Glasbruch, Pflanzen, Fotos und andere Fundstücke aus dem Ambiente der Natur in Spannung gesetzt werden kann. Stelle und Zeitpunkt greifen also ineinander und erlauben dem Betrachter eher sich anzunähern als sofort davon Besitz zu ergreifen.
Veit Loers
Cesiomaggiore, 21.05.2012
Mythos und Märchen wurden zu allen Zeiten vom Künstler geschätzt. In ihnen verdichtet sich Menschheitswissen. Die ewigen Fragen, die sich jede Generation neu stellt und zu beantworten sucht (Warum bin ich überhaupt da? Was für einen Sinn macht meine Existenz? Woher komme ich und wohin gehe ich?), wurden in Mythos und Märchen schon immer thematisiert. Daher bilden sie für viele Künstler einen ebenso anregenden wie fruchtbaren Nährboden für die Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen.
Auch für Simona Pries, gelernte Bildhauerin und Architektin, deren große Installation, die sie vor vier Jahren im Celler Schloss zeigte, sich explizit auf das Märchen m „Dornröschen“ der Brüder Grimm bezieht. Pries präsentiert in ihr drei identische Gehäuse aus transluzidem Gewebe. Ihre konstruktive Form erinnert an die klaren Module der Minimal Art. In jedem Gehäuse ist die gleiche Liege sichtbar, wie wir sie aus Krankenhäusern kennen. Die Liegen rufen nicht nur den hundertjährigen Schlaf der Prinzessin ins Gedächtnis, sondern auch die Hinfälligkeit und Endlichkeit des Menschen. Aus vier Lautsprechern hören wir die Geschichte vom „Dornröschen“, während die Liegen aus farbigem Licht wie aus einem lange vergessenen Traum auftauchen. Er erinnert uns daran, dass unser Leben gefahrvoll ist, voller Schmerzen und Verletzungen, Prüfungen und Krisen. Dass aber jede Krise auch die Chance bereithält, an ihr zu wachsen. Welche Wende wir unserem Leben in „Gefahr und höchster Not“ zu geben vermögen, allein darauf kommt es an.
In diesem Sinne spricht solche Kunst gleichermaßen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Immer wieder begegnen wir im Werk von Simona Pries solchen Verweisen auf eine „zeitlose“ conditio humana. Auch in der Plastik „Milchmädchenrechnung“ (2007), die in Salder als Solitär gezeigt wird, indes Teil einer Werkserie ist, zu der noch „Rapunzelturm“ und „Persephone“ gehören. Allein den Titeln der Arbeiten hinterher zu hören, macht deutlich, wie sehr wir mit ihnen erneut in den Raum von Mythos, Märchen und Fabel eintreten. Die „Milchmädchenrechnung“ zeigt einen Turm, aus Winkelsteinen gefügt, wie sie jedes beliebige Bauhaus für den Heimwerker bereithält. Er macht klar, wie stark Simona Pries mit ihrem Werk in der künstlerischen Tradition des objet trouvé und der arte povera steht. Arme und alltägliche Materialien wandern in ihre Kunst und erleben dort eine sie belebende Transformation. Eine Verwandlung, die das Unbedeutende bedeutend und das Banale schön macht.
Für Mondrian war die Horizontale die Welt und die Vertikale der Mensch. Er gehört zu jenen Künstlern, mit deren Werk sich die Kunst von Simona Pries schon immer auseinander gesetzt hat. Für sie ist der Konstruktivismus indes kein Endzweck, sondern Mittel zum Zweck. Ihr perfekt gegliederter Turm, von weißer Farbe gestisch übergossen, will keine exemplarische Form sein, sondern vom Menschen erzählen. Und das gelingt Pries hervorragend. Der Turm erzählt von Rechnungen, die nicht aufgehen, von Träumen, die zerbrechen, von „Verlorene(n) Illusionen“, wie sie Honoré de Balzac geschildert hat. Hinter seiner Gestalt taucht wie von selbst ein Gegenbild auf: Jan Vermeers „Dienstmagd mit Milchkrug“ (1658/60), die ruhig und konzentriert Milch in eine Schale gießt, ein malerisches Monument häuslicher Verrichtung, wo alles an seinem Platz ist. Ausdruck einer harmonisch geordneten Welt.
Die einer begrenzten und begrenzenden Gegenwart enthobene Verfasstheit des Menschen interessiert Simona Pries als Thema ihrer Kunst nicht weniger als das Motiv der Schönheit. Sie rettet sie in die Gegenwart durch die Art und Weise, wie sie in ihrem Werk banale Stoffe einem Zauber unterwirft, durch den sie am Ende nicht mehr dieselben sind. Ganz so wie auch im Märchen der Frosch, durch liebenden Blick berührt, zum König wird, werden die alltäglichen Materialien ästhetisch geadelt durch Konzept, Kontext und Konstruktion. Dabei schafft die Zusammenziehung von Gegensätzen eine formale Spannung, die es auszugleichen gilt. Wie in ihren Wandarbeiten „o. T.“ (2007/08) im Salon Salder. Brutaler Beton verbindet sich mit zartem Glas, ödes Grau mit sinnlicher Farbe. Und wenn die Künstlerin auf diese Weise antagonistische Stoffe in ein gelingendes Gleichgewicht bringt, erzählt sie einmal mehr von einem großen Menschheitstraum.
Michael Stoeber
Der Titel mutet zunächst seltsam an: Ein Haus für eine Blume. In ihm schwingt etwas Bekanntes mit – und gleichzeitig etwas Unbekanntes. Er bezeichnet etwas vermeintlich sehr nahe liegendes – und gleichzeitig etwas Fremdes.
Dieser poetische und zugleich konzeptionell – programmatische Titel Ein Haus für eine Blume ist nicht eindeutig – aber gleichwohl auf spezifische Art und Weise eindringlich und direkt, weil seine einfache Struktur und die Wörter Haus und Blume auf unseren Alltag, auf eine überall wirksame Normalität, und dergestalt auf unsere Kultur und die mit ihr verbundene Dingwelt verweisen.
Er hält das Eigentliche in der Schwebe, bewahrt folglich ein Rest von Geheimnis – und dies auch nach der Auflösung dessen, was er bezeichnet.
Zunächst ist das Haus für eine Blume konkret zu verstehen als artifizieller Eingriff in ein kompliziertes und hoch verdichtetes Gefüge aus Architektur und Natur, aus Raum und Leere, wie ihn die Künstlerin Simona Pries im Park von Sanssouci vorgefunden hat.
Diese Beschäftigung mit den an konkreten Orten waltenden „Beziehungen“ und „Dingen“ in ihrem komplementären und dialogischen Verhältnis zueinander eröffnet ihr zugleich die komplexen Möglichkeiten zur Beantwortung der Frage nach Inhalt und Form, nach Geist und Ordnung, nach Sinn und Funktion einer einerseits zweckgebundenen und doch auch zweckfreien, allein nach der Phantasie zu generierenden architektonischen Form, die den Inhalt auf individuelle Weise widerspiegelt
Das Haus für eine Blume ist gewissermaßen als Intervention in diesem vorhandenen, aus der Geschichte und einer ganz speziellen historischen Konstellation und Begegnung erwachsenen und nunmehr auf uns gekommenen Gefüge zu verstehen.
Als Intervention, die es vermag, die speziellen räumlichen und geistigen Beziehungen zwischen Architektur und Natur, und somit auch die geheimen Energien und Spannungen, die Kräfte und ihre Reserven, des konkreten Ortes, sichtbar zu machen und aus ihrem Kontext spürbar hervortreten zu lassen.
Im Park von Sanssouci, für den dieses Haus ursprünglich konzipiert ist, steht die Natur, natürlich die domestizierte Natur, im Vordergrund. Man könnte auch sagen, sie bildet für das, was wir schaffen und sehen, den szenischen Hintergrund, den inszenierten Bildraum. In diesem Naturraum sind die zartesten Dinge, die schutzlosesten und lieblichsten Gewächse (als Seiende), die Blumen – im biblischen Sinne das Symbol irdischer Schönheit schlechthin. Sie gelten als Zeichen des passiven Prinzips, der Haltung des Empfangens mit ihren dem Himmel zugewandten Kelchen.
Blumen erinnern an den Zustand der Kindheit und derart gewissermaßen auch an das Paradies, ebenso an die Unbeständigkeit, den Wechsel, die Vergänglichkeit – mithin zugleich an das Bild des flüchtigen Charakters der Schönheit.
Und hier stoßen wir auf das Anliegen von Simona Pries: sie will dieser Schönheit – im realen wie im geistigen Sinne - auch wenn es zunächst paradox anmutet, einen Raum jenseits des Parks und seiner materiellen Möglichkeiten, aber diesseits des irdischen Raumes und der konzeptionellen Idee des Parks schaffen: Ein Gebäude aus elementaren Grundfiguren zusammengesetzt, wie eine Höhle und das Zelt, wie das Pantheon und der Parthenon, wie Stonehenge und die Hagia Sophia.
Der geometrisch perfekte Kreis und die gen Himmel sich wölbende Halbkugel stellvertretend für die Darstellung des Kosmos, das aus wandartigen Stelen gebildete und die Kuppel bergende Labyrinth stellvertretend für die Rätsel, die uns der Kosmos und die Welt im Grunde bleiben – denn alles was wir tun und denken, sind und bleiben Annäherungen an das große Enigma Leben, dem das Denken und der Sinn erst erwachsen. Davor war die Leere, die sich nicht denken lässt. Sie ist das Ungeheuerliche, aus dem wir andererseits unsere Kraft schöpfen, um zugleich die Angst vor ihr zu bezwingen. Und aus dieser Leere keimt und blüht stellvertretend eine Blume. - Ein schöner Gedanke, den man allerdings kaum mehr zuzulassen sich traut.
(Auszüge aus dem Katalogtext von Prof. Dr. Martin Kieren)